Verheerendes Erdbeben in der Türkei und in Syrien

7. Februar 2023

Menschen stehen auf den Trümmern der zerstörten Gebäude

Wenn nichts als Trümmer und Leid übrig bleiben ...

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Text: Clynton Beukes, World Vision-Programmdirektor für die Syrien-Nothilfe

Inhaltsübersicht:

  • Mehrere Erdstösse
  • Die Situation in Nordsyrien
  • Wachsende Zahl der Betroffenen
  • Wie geht es den World Vision Mitarbeitenden
  • Wärme in der Kälte
  • Kinderschutzzonen
  • Trinkwasser
  • Finanzierung
  • Zusammenarbeit mit Partnern
  • Erste Nothilfe-Massnahmen gemeinsam umsetzen

 

Diese Erdbebenkatastrophe hätte nicht schlimmer sein können. Es war katastrophal. Mit «katastrophal» ist nicht einmal alles gemeint, was in der Türkei und in Nordsyrien geschehen ist. Es bricht einem das Herz, dass wir nach 12 Jahren Krieg und nach der wirtschaftlichen Katastrophe, welche die Türkei in den letzten zwei Jahren erlebt hat, diesen absoluten Zusammenbruch von allem erleben müssen. Es ist wirklich herzzerreissend.

Ich habe letzte Nacht kaum geschlafen, und ich befinde mich nicht einmal im Katastrophengebiet. Ich bin in Amman, Jordanien. Ehrlich gesagt bricht mir das Herz angesichts dieser Situation. Viele unserer Mitarbeitenden und ihre Familien verbrachten die erste Nacht in ihren Autos mit kaum einer oder zwei Stunden Schlaf und versuchten verzweifelt herauszufinden, was sie als nächstes tun sollten.

 

Mehrere Erdstösse

Wir haben eine Vielzahl von Erdstössen erlebt. Zunächst ereignete sich um 4 Uhr morgens ein Erdbeben der Stärke 7,8 auf der Richterskala, und wir hörten erschütternde Berichte von Mitarbeitenden, die sich entscheiden mussten, welches ihrer Kinder sie aufnehmen und mit ihm die Treppe hinunterlaufen und welches sie zurücklassen sollten.

Das Beben dauerte zwischen anderthalb und zwei Minuten und war für alle in der Region äusserst beängstigend. Selbst hier in Jordanien haben wir die Erschütterungen gespürt. Sie waren auch im Libanon, auf Zypern und in Griechenland zu spüren.

Dann ereignete sich um 13 Uhr Ortszeit ein zweites grosses Erdbeben. Das war zwar etwas weiter weg, aber immer noch in derselben Region. Die Beben finden im Wesentlichen entlang einer Verwerfungslinie statt. Es handelt sich nicht nur um ein Erdbeben-Epizentrum, sondern eher um eine "Epi-Linie" quer durch den Süden der Türkei. Diese Katastrophenlinie bedeutet, dass sich die Verwüstung ziemlich weit ausdehnt.

 

Die Situation in Nordsyrien

«Glücklicherweise» ereignete sich die Katastrophe im Herzen von World Visions aktuellem Einsatzgebiet in Syrien, wo wir uns um die Bedürfnisse der Menschen in Nordsyrien und der Türkei kümmern, die in den letzten Jahren bereits eine äusserst schwierige Situation durchlebt haben. So konnten unsere Mitarbeitenden schnell mit Nothilfemassnahmen beginnen.

Die Stadt Gaziantep in der Türkei ist das Zentrum der grenzüberschreitenden Syrienhilfe für viele Internationale NGOs, auch viele ihrer Büros sind schwer beschädigt wurden. Das Büro von World Vision östlich der Stadt in Sanliurfa hat die Erdbeben recht gut überstanden, aber Gaziantep als Ganzes wurde sehr stark beschädigt.

Diejenigen, die in Gaziantep leben, versuchen verzweifelt, einen Platz zum Schlafen zu finden, der nicht ihr Gebäude ist, weil sie Angst vor Nachbeben haben. Der Flughafen der Stadt ist geschlossen, und die Provinz Hatay, in der die biblische Stadt Antiochia liegt, ist ebenfalls schwer beschädigt.

Glücklicherweise ist der Grenzübergang nach Nordsyrien, über den humanitäre Organisationen Hilfsgüter in die von der Opposition kontrollierten Gebiete Syriens transportieren, noch geöffnet, aber stark beschädigt. Es können also immer noch Waren aus und nach Nordwestsyrien gelangen.

Der Nordwesten Syriens ist seit Jahren der Schwerpunkt der humanitären Hilfe. Die Stadt Idlib ist wirklich schwer beschädigt, wahrscheinlich das am meisten beschädigte Gebiet im Nordwesten. Leider sind alle Gebiete, in denen World Vision im Norden Syriens tätig ist, stark betroffen.

Tausende von Menschen sind sowohl in den von der syrischen Regierung als auch in den von der syrischen Opposition kontrollierten Gebieten im Nordwesten Syriens ums Leben gekommen, und wir wissen, dass diese Zahl noch steigen wird.

Leider gibt es in Nordwestsyrien nicht die gleichen staatlichen Strukturen und Systeme wie in der Türkei, so dass die Möglichkeiten zur Suche und Rettung von Menschen stark eingeschränkt sind und die Arbeit wirklich erschütternd ist.

Nichtregierungsorganisationen versuchen, Bagger zur Rettung der Menschen einzusetzen, aber das reicht nicht aus. Die Lage ist schwierig, und wir rechnen fest damit, dass die Zahl der Todesopfer noch steigen wird. Viele Menschen sind aus ihren Häusern geflohen und leben nun in informellen Zeltsiedlungen für Flüchtlinge, die bei Familien und Freunden untergebracht sind. Haushalte, die schon vor dem Beben unter Stress standen, sind nun gezwungen, Menschen aufzunehmen, die früher als etwas privilegierter galten.

 

Wachsende Zahl der Betroffenen

Ich denke, die Zahl der Todesopfer in der Türkei wird ebenfalls drastisch ansteigen. Dies ist das schwerste Erdbeben in der Türkei seit mehr als 100 Jahren, und die Zahl der Todesopfer lag damals bei über 30’000 Menschen. Wir rechnen mit dem Schlimmsten, hoffen aber natürlich auf das Beste. Es gibt Zehntausende von Verletzten und Vermissten, und es ist äusserst schwierig, Informationen über die Menschen zu erhalten.

Nach Angaben der türkischen Katastrophenschutzbehörde sind mehr als 5’700 Gebäude eingestürzt, aber auch hier erwarten wir, dass diese Zahl noch steigen wird. Aus der Türkei und Nordwestsyrien kommen immer mehr Daten über zerstörte Gebäude. Noch immer sind Hunderte von Menschen eingeschlossen, und da es den Rettungsteams nicht möglich ist, in den Nordwesten Syriens vorzudringen, könnte diese Zahl noch steigen. Es werden zwar Rettungsteams aus aller Welt in die Türkei entsandt, aber aufgrund der Sanktionen ist es unwahrscheinlich, dass sie nach Nordwestsyrien gelangen können.

 

 

Clynton Beukes ist der World Vision-Programmdirektor für die Syrien-Nothilfe. Ausserdem leitet er die Bereiche Arbeit vor Ort, Programmentwicklung und Qualität für Jordanien, Syrien und die Türkei. Er lebt in Jordanien.

 

Wie geht es den World Vision Mitarbeitenden

Schon in den ersten Stunden nach dem Beben haben wir versucht, unsere Mitarbeitenden zu erreichen, um herauszufinden, ob sie in Sicherheit sind. Buchstäblich von dem Moment an, als sich das Beben um 4 Uhr morgens ereignete, versuchten wir uns zu vergewissern, dass es allen gut ging. Unser Team in Nordwestsyrien führte ein schnelles Assessment unserer Mitarbeitenden durch, um sicherzustellen, dass es ihnen gut geht. Dasselbe haben wir für unsere Mitarbeitenden in der Türkei getan. Wir haben 48 Mitarbeitenden in Nordwestsyrien und über 200 Freiwillige.

Eine Lehrerin, die in einer unserer Schulen arbeitet, ist leider verstorben. Sie war von der Bildungsdirektion für den Einsatz in Syrien ausgesandt worden. In Anbetracht der engen Beziehung, die unser Team zu ihr hatte, betrachteten wir sie wirklich als Teil der Familie, so dass ihr Verlust für uns ein grosser Verlust ist. Leider sind auch ihr Ehemann und ihre sechs Kinder verstorben.

Derzeit führen wir eine schnelle Bedarfsermittlung durch und koordinieren uns mit anderen internationalen humanitären Organisationen.   Ich bin wirklich stolz auf die Arbeit, die unsere Mitarbeitenden leisten, um sich untereinander abzustimmen und sicherzustellen, dass wir uns nicht wiederholen, sowohl in der Türkei als auch in Nordwestsyrien.   

 

Wärme in der Kälte

Wir haben bereits damit begonnen, Heizgeräte aus einigen unserer Schulen - in denen der Unterricht ausgesetzt ist - zu entfernen und Öl und Brennstoff zu liefern, um sicherzustellen, dass die Menschen in den Sammelunterkünften Wärme haben.  Der grösste Bedarf besteht derzeit an Brennstoffen, denn die Menschen brauchen Wärme an ihren Zufluchtsorten, um Krankheiten zu vermeiden. 

Das grösste Problem haben im Moment die Binnenflüchtlinge, sie schlafen, wo immer sie können. Die Menschen machen Feuer in Ölfässern, schlafen im Freien, auf Stühlen und in Autos und versuchen, ein warmes Plätzchen zu finden... überall, nur nicht in einem einsturzgefährdeten Gebäude. Gebäude und Wohnungen sind weiterhin instabil. 

 

Kinderschutzzonen

Die Bildungsdirektion in Nordwestsyrien hat den Unterricht bis mindestens Ende der Woche ausgesetzt.  Wir werden sehen, ob wir einige dieser einst sicheren Orte in kinderfreundliche Räume umwandeln können. 

 

Trinkwasser

Die Infrastruktur wurde stark beschädigt. Viele der Brunnen, aus denen die Menschen Wasser holten, sind verschmutzt, so dass wir überlegen, ob wir Wasser mit Lastwagen herbeischaffen sollen.  Es gibt auch viele Schutzrisiken für Kinder, und wir prüfen, was wir tun können, um sie zu schützen.

Die türkische Regierung hat zugesagt, den Grenzübergang nach Nordwestsyrien offen zu halten, und wir werden diesen nutzen, um mit unseren Mitarbeitenden in Syrien in Kontakt zu bleiben. Die Hauptverbindungsstrasse zu diesem Grenzübergang ist jedoch weiterhin beschädigt.  

 

Finanzierung

Ein weiteres grosses Problem ist die Finanzierung. Die Syrien-Krisenhilfe war bereits stark unterfinanziert, was die frühzeitige Schliessung von Krankenhäusern, Zentren für die medizinische Grundversorgung und Schulen zur Folge hatte.  Dieses Erdbeben hätte nicht zu einem schlechteren Zeitpunkt kommen können.  

Allerdings ist jetzt eine umfangreiche Hilfsaktion im Gange, und wir tun, was wir können.  Wir haben uns mit unseren Partnern vor Ort in Nordwestsyrien in Verbindung gesetzt, und viele dieser Partner sind in der Lage, Finanzmittel zu übernehmen und die am schwersten zu erreichenden Orte zu erreichen, vor allem in Nordwestsyrien, aber auch in der Türkei.  

Wir haben bereits 800’000 US-Dollar zur Verfügung gestellt, was es uns ermöglichte, die Mittel sofort zu erhöhen und mehreren wichtigen Partnern in Nordwestsyrien und der Türkei Mittel zur Verfügung zu stellen.  Es gab keine Verzögerung bei der Bereitstellung der Mittel für die Menschen, die sie am dringendsten benötigen.  

 

Zusammenarbeit mit  Partnern

Wir arbeiten mit kompetenten Partnern zusammen, um sicherzustellen, dass wir die Hilfsgüter zu den Bedürftigen bringen können.. Wir vertrauen ihnen, wir kennen sie, und wir haben seit langem bestehende Beziehungen zu ihnen. Der grösste Bedarf besteht derzeit noch an Unterkünften und Hilfsgütern. Ein weiterer äusserst wichtiger Punkt ist die Gesundheitsversorgung und die Unterstützung der Gesundheitseinrichtungen, die die Verletzten behandeln.  Diese Einrichtungen werden von der Weltgesundheitsorganisation als vorrangig eingestuft. Es gibt sieben von ihnen, und wir hoffen, unsere Unterstützung in den nächsten Tagen auf bis zu 11 erhöhen zu können.  

Auch in den von der Regierung kontrollierten Gebieten Syriens helfen wir über den Rat der Kirchen im Nahen Osten, insbesondere bei der Bereitstellung von Unterkünften und Hilfsgütern für Aleppo, das schwer beschädigt wurde.  Wir arbeiten auch mit dem Türkischen Roten Halbmond in der Südtürkei zusammen und hoffen, die Hilfe ausweiten zu können.

 

Erste Nothilfe-Massnahmen gemeinsam umsetzen

Als World Vision beginnen wir mit der direkten Umsetzung im Katastrophengebiet, indem wir Wärme und Brennstoffe bereitstellen, und wir verschwenden keine Zeit damit, unseren Partnern die Mittel zukommen zu lassen, die sie für eine Ausweitung der Massnahmen benötigen. Denn es gibt mehrere lokale syrische Organisationen, die in der Türkei und in Syrien hervorragende Arbeit leisten und dringend Mittel benötigen.

World Vision ist derzeit dabei, den Bedarf der Überlebenden zu ermitteln, und wir werden die Ergebnisse in den nächsten Tagen erhalten.  

Unser Einsatzteam leistet eine unglaubliche Arbeit.  Viele unserer Mitarbeitenden sind von der Krise betroffen.  Wir haben sie vor die Wahl gestellt, zu arbeiten oder sich um ihre Familien zu kümmern, und die meisten von ihnen sagten: 'Wir wollen helfen. Was können wir tun?', und sie sind jetzt dabei, den Bedarf zu ermitteln.  Das zeigt mir, dass wir unglaubliche Menschen haben, die für uns arbeiten.  

Wir entsenden jetzt einen Teil unseres Einsatzteams von Jordanien nach Syrien und in die Türkei, um die dortigen Teams zu unterstützen.  Wir sind dabei, einen Reaktionsplan zu erstellen, aus dem hervorgeht, wo und wem wir unsere Hilfe zukommen lassen werden und wie sie aussehen wird. 

Wir dürfen nicht die vielen laufenden Programme vergessen, mit denen wir bereits auf den Syrienkonflikt reagieren. Diese sind äusserst wichtig und müssen trotz der Schäden durch das Beben fortgesetzt werden.

 

Das Gespräch wurde am 7. Februar 2023 aufgezeichnet.

 

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