LATEINAMERIKA: DAS NEUE EPIZENTRUM VON COVID-19

3. Juni 2020

Brasilien: Eine 9-köpfige Familie, Migranten aus Venezuela steht vor einer Wellblechhütte und blickt in die Kamera

In Brasilien verteilt World Vison unter anderem Hygienekits an die Kinder, unterstützt sie mit Infomaterial und hilft bei der Bewältigung von Ängsten.

Text: Mishelle Mitchell, Regional Director Communications World Vision Latin Americs & Caribbean

Fast 40 Prozent der täglichen COVID-19-Todesfälle werden derzeit aus Lateinamerika gemeldet. Die Region hat sich zum neuen Epizentrum der Pandemie entwickelt. In Brasilien, Peru, Chile und Mexiko nimmt die Zahl der Fälle und Todesfälle täglich rasant zu. «In Brasilien ist die Anzahl der täglichen Todesfälle exponentiell angestiegen, mit 88 300 Toten bis zum 4. August», sagte Carissa Etienne, Direktorin der Panamerikanischen Gesundheitsorganisation PAHO. Was Nicaragua erwartet, wo der Präsident mitten in der Corona-Krise für fünf Wochen einfach komplett von der Bildfläche verschwand, ist völlig ungewiss. Trotz Corona gibt es keine Einschränkungen. Partys und Fussballspiele sind erlaubt.

Corona-Statistik: Eine Statistik vom 26. Mai zeigt, wie viele gemeldete Corona-Fälle es in verschiedenen Lateinamerikanischen Staaten gibt. Brasilien ist mit über 370000 Fällen mit Abstand am schlimmsten betroffen.

Brasilien verzeichnet mit grossem Abstand die höchste Zahl an COVID-19-Fällen in Lateinamerika. Quelle: statista.com

Zu Hause bleiben ist keine Option
Für Millionen von Frauen, Männern und Kindern aus Lateinamerika und der Karibik bietet das Leben keine vielversprechenden Möglichkeiten: «Entweder sterben wir an COVID-19 oder wir verhungern». Dieser düstere Satz ist in ganz Lateinamerika weit verbreitet. Gesagt hat ihn zum Beispiel ein Sozialarbeiter der Presbyterianischen Kirche in Manaus, Brasilien, dem derzeitigen Epizentrum der COVID-19-Pandemie. Aber auch Migrantenfamilien in Cucuta, Kolumbien, begründen damit ihre riskante Entscheidung, sich inmitten der Krise zu Fuss auf den Rückweg nach Venezuela zu machen.

Andernorts sinnvolle Ausgangssperren bieten gefährdeten Kindern und ihren Familien in Lateinamerika keine Sicherheit – im Gegenteil. Ungefähr 140 Millionen Menschen verkaufen dort jeden Tag auf der Strasse ihre Waren, denn das ist ihre Einkommensquelle. In Bolivien macht diese informelle Wirtschaft 75 Prozent der arbeitenden Bevölkerung aus. Für diese 75 Prozent hat die Pandemie jede Möglichkeit zerstört, ihre Familien zu ernähren. Und die Mehrheit der Bevölkerung in Bolivien verfügt über weniger als 500 US-Dollar (rund 480 Franken) Ersparnisse.

Corona-Statistik: Eine Statistik vom 26. Mai zeigt, wie viele gemeldete Corona-Fälle es in verschiedenen Lateinamerikanischen Staaten gibt. Brasilien ist mit über 370000 Fällen mit Abstand am schlimmsten betroffen.
An besonders arme Familien, wie hier in Guatemala, liefert World Vision Hygienesets, Lebensmittelpakete und auch Schulmaterial für Kinder.

Doppelte Gefahr: Stillstand und Corona bedrohen Leben
Die Märkte, auf denen in städtischen und ländlichen Gebieten der Handel stattfindet, sind wegen der erhöhten Ansteckungsgefahr jetzt nur noch eingeschränkt funktionsfähig. In Lateinamerika – nach Angaben des Weltwirtschaftsforums die Region mit der grössten Schere zwischen arm und reich –bedeutet die Pandemie eine doppelte Bedrohung.  Wer nicht in der Lage ist zu verkaufen, kann auch nicht kaufen oder bezahlen, zum Beispiel die medizinische Versorgung, Nahrung, Unterkunft und Ausbildung für die Kinder. Die Überlebenschancen und der Zugang zu den Lebensgrundlagen sind stark eingeschränkt.

Mit dem Stillstand der Wirtschaft und den zur Eindämmung des Virus notwendigen Quarantäne- und Distanzmassnahmen sind die Mittel, mit denen Millionen Menschen ihren Lebensunterhalt sichern, praktisch über Nacht verschwunden. «Infolgedessen stehen Millionen von Kindern am Rande der Unterernährung», sagt Joao Diniz, Direktor von World Vision Lateinamerika. Die Folgen der Pandemie für die ohnehin schon schwächsten Familien werden die Kinder wahrscheinlich auf die Strasse treiben. 

 


Ein Beispiel aus Kolumbien: Kindgerecht aufbereiteten Informationstafeln in der Muttersprache sind jetzt besonders wichtig.

Warum trifft es Lateinamerika besonders hart?
Am 30. Mai entfielen auf Lateinamerika und die Karibik, wo 8 Prozent der Weltbevölkerung leben, über 14 Prozent der weltweiten COVID-19-Fälle. Die Region hat inzwischen längst die Marke von einer Million bestätigter Fälle und 50’000 Todesfällen überschritten. Die Hälfte davon – 526’000 Fälle – kommt aus Brasilien, das weltweit an zweiter Stelle steht. In Peru sind über 170‘000 Fälle verzeichnet, das ist der zweithöchste Wert in Lateinamerika. 

Der Anstieg der Fälle in Lateinamerika ist auf Ungleichheit und ein recht komplexes politisches Szenario zurückzuführen. Brasilien ist die neuntgrösste Volkswirtschaft der Welt, aber das wohlhabendste 1 Prozent der Bevölkerung verdient 33 Mal mehr als die ärmsten 50 Prozent, so das Weltwirtschaftsforum. Die exponentielle Kurve, die wir beobachten, wird von der Ungleichheit angetrieben. Andererseits ist die überwiegende Mehrheit der Volkswirtschaften Lateinamerikas und der Karibik schwach und nicht in der Lage, einen gleichberechtigten Zugang zu Gesundheitsdiensten bereitzustellen und zu verteilen. Erstaunliche 70 Millionen Menschen in der Region haben keinen Zugang zu sauberem Wasser. Sie können sich also die Hände gar nicht waschen, damit sie nicht krank werden. Infolgedessen stehen Millionen von Kindern und ihre Familien in den überfüllten Städten an vorderster Front, was das Risiko einer Ansteckung betrifft.

In Brasilien beispielsweise leben 6 Prozent der Bevölkerung in Favelas und Slums – in provisorischen Häusern ohne Zugang zur Grundversorgung mit Wasser, Strom usw. 13,6 Millionen Menschen müssen so leben, das ist weit mehr als die Gesamtbevölkerung der Schweiz mit ihren rund 8,5 Millionen Einwohnern. In ganz Lateinamerika leben 62 Millionen Menschen in extremer Armut, das entspricht in etwa der Gesamtbevölkerung Frankreichs. Alle sind mit der gleichen Realität konfrontiert: Sie sterben entweder an COVID-19 oder an Hunger.

 In Bolivien können die Kinder nicht mehr zur Schule: Nuba und ihre Mutter Rosa sehen sich die Hausaufgaben an, die der Lehrer per WhatsApp übermittelt.

Jetzt ist weltweite Solidarität gefragt
In den 15 Ländern Lateinamerikas und der Karibik, in denen die internationale World Vision-Partnerschaft tätig ist, setzten wir uns schon seit Jahren dafür ein, die Gesundheitssysteme zu stärken. Wir arbeiten an der Umsetzung wirksamer sozialer und wirtschaftlicher Massnahmen zum Schutz der Schwächsten, insbesondere von Millionen von Mädchen und Jungen. Und wir fordern, dass bei nationalen und internationalen Massnahmen gegen COVID-19 der Kinderschutz mit einbezogen wird, um Missbrauch und Ausbeutung zu verhindern. 

World Vision stellt 350 Millionen US-Dollar bereit, um die Kinder und Familien in Not zu unterstützen, zum Beispiel mit alternativen Einkommensmöglichkeiten, Sicherstellung der Ernährung und Lebensgrundlage, Sensibilisierung für den Kinderschutz, Hygieneschulungen und Online-Unterricht. Der Schutz der Kinder wird nur mit einer weltweiten Solidarität möglich sein, die Chancengleichheit fördert und gefährdeten Familien eine Perspektive bietet. 

Auf diese Weise will World Vision verhindern, dass eine ganze Generation infolge dieser Pandemie stark verarmt und ausgebeutet wird. Mit einer Spende können auch Sie dazu beitragen.

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