COVID-19: Die Mädchen leiden am meisten

24. September 2020

Afrika: Ein Mädchen im bunten Rock, deren Gesicht nicht zu erkennen ist, sitzt auf einem Lehmboden

MÄDCHEN WIE SIE WERDEN MIT 12, 14 ODER 16 VERHEIRATET, WEIL DIE FAMILIE SIE NICHT MEHR ERNÄHREN KANN – WEGEN DER COVID-19-LOCKDOWNS.

Text: World Vision

Das Virus kostete Aishatas* Mutter, ihrem Vater und zwei Onkeln das Leben. Das sechzehnjährige Mädchen bat die Dorfältesten, ihre Eltern hinter dem Haus zu begraben. «Ich wollte an ihren Gräbern sitzen und jede Nacht um sie trauern». Das Mädchen blieb schutzlos zurück. Bald darauf arrangierte eine Tante für Aishata eine Heirat mit einem 40-jährigen Mann – und kassierte die Mitgift. 

Sierra Leone: Ein Mädchen mit einem bunten Tuch um den Kopf sitzt vor mehreren aufgehäuften Gräbern, die mit Steinen bedeckt sind.Ein herzzerreissendes Bild: Aishata vor den frischaufgehäuften Erdhügeln, die die Gräber ihrer Eltern bedecken. 

Leider ist Aishata kein Einzelfall. Tödliche Krankheiten zwingen Familien wie die ihre immer wieder zu Entscheidungen, die sie sich nie hätten vorstellen können. Das Mädchen aus Sierra Leone hatte damals mehrere jüngere Geschwister, die alle finanzielle Unterstützung benötigten, um überleben zu können. Ihre Mitgift hat dazu beigetragen. Ungeachtet der Gründe änderte jedoch die Entscheidung der Tante Aishatas Leben für immer.

«Ich habe der Heirat nicht zugestimmt», sagt sie verbittert. «Ich wollte meine Schulausbildung fortsetzen, wenn der Unterricht wieder anfängt ...» 

Aber ohne die Unterstützung von Lehrern, Schuldirektoren oder Gemeindearbeitern war sie machtlos. Die Schulen waren während der Sperrzeit geschlossen, die Lehrer zu Hause bei ihren eigenen Familien und Geschäfte und Gemeindezentren unerreichbar. Wer hätte sich da um sie und die anderen Kinder kümmern können?

Sierra Leone: Zwei junge Mädchen schauen traurig direkt in die Kamera, eines weint. Sie stehen im Eingang einer Hütte.Ashata (r.) und ihre jüngere Schwester. Mädchen wie sie werden oft aus Not verheiratet, um das Überleben der Geschwister zu sichern.

Als die Schule schliesslich wieder geöffnet wurde, sass Aishata nicht mehr an ihrem Pult. Sie war die jüngste von vier Ehefrauen geworden, auf die ein Mann in ihrer Region Sierra Leones Anspruch hat. 

Gefährliche Nebenwirkungen: Der Kinderschutz wird ausgehebelt
Das Virus, das Aishata die Aussicht auf ein selbstbestimmtes Leben kostete, war nicht COVID-19, sondern Ebola. Die Krankheiten haben jedoch viel gemeinsam: Beide sind sehr ansteckend und beide zwingen Familien in Quarantäne. In Ländern, wo Präventionsmassnahmen wenig verbreitet und die Gesundheitssysteme schwach sind, ist die Gefahr besonders gross.

Wie Ebola bedroht auch COVID-19 Millionen von Kindern in den besonders fragilen Ländern der Welt, da durch die Abschottungsmassnahmen die mühsam aufgebauten Unterstützungsnetze in den Schulen ausgehebelt werden. Eine Studie von World Vision (A Perfect Storm) prognostiziert entsprechend einen starken Anstieg der sexuellen, physischen und psychischen Gewalt gegen Kinder als Folge von COVID-19, insbesondere eine Zunahme der Kinderheiraten.

Die wichtigsten Ergebnisse der Studie:

  • Bis zu 85 Millionen Mädchen und Jungen weltweit könnten infolge von COVID-19 zusätzlich physischer, sexueller und/oder emotionaler Gewalt ausgesetzt sein.
  • Viele der prognostizierten 13 Millionen Kinderheiraten werden in den Jahren unmittelbar nach der COVID-19-Krise stattfinden.
  • Mindestens vier Millionen mehr Mädchen werden in den nächsten zwei Jahren verheiratet, als vor der COVID-19-Pandemie prognostiziert.

«Wir rechnen mit einem starken Anstieg der Fälle, in denen Kinder körperliche, emotionale und sexuelle Gewalt erleben», warnt Simon Lewchuk, Mitverfasser des World Vision-Berichts. Bei sehr vielen Kindern werde sich die Gewalt noch lange nach dem Abklingen der Pandemie auswirken, sagt er. «Für eine Kinderbraut zum Beispiel wird das Leben nicht einfach wieder zur Normalität zurückkehren, sobald der Lockdown beendet ist. Sie könnte noch viele Jahre lang Gewalt ausgesetzt sein.«

Die Lehren aus Ebola helfen auch in der aktuellen Krise
World Vision kann viele der in der Ebola-Epidemie gemachten Erfahrungen auf die aktuelle globale Pandemie anwenden. Die Mitarbeitenden haben mit eigenen Augen gesehen, welche brutalen Auswirkungen es für Kinder hat, wenn die Gemeindenetzwerke durch die Abschottung auseinandergerissen werden. Während einer solchen Krise bleiben die Kinder mit ihren Verwandten eingeschlossen. Diese wiederum wissen sich oft gar nicht anders zu helfen, als eine Tochter zu verheiraten, weil ihre Lebensgrundlagen verschwinden und das Geld immer knapper wird. Die beengten Verhältnisse heizen die Gemüter zusätzlich an und können physische und emotionale Gewalt gegen Kinder weiter fördern. 

Überall auf der Welt wurden die Schulen, so wie diese hier in Bangladesch, geschlossen, um die Ausbreitung von COVID-19 zu verlangsamen – mit schwerwiegenden Folgen für die Kinder.

«Ich fürchte, dass zu viele Kinder hinter verschlossenen Türen in Schwierigkeiten sind», sagt Studienautor Simon Lewchuk. «Und da viele Länder abgeriegelt sind, können Lehrer und Sozialarbeiter nicht die Hilfe leisten, die sie normalerweise leisten würden.»

So unterstützt World Vision
World Vision hat während der Ebola-Epidemie viel darüber gelernt, wie gefährdete Kinder während eines Lockdowns trotzdem erreicht werden können. Die Teams setzen jetzt all diese Massnahmen ein – und in vielen Fällen funktionieren sie auch.

Weil unsere Mitarbeitenden vor Ort viele der Kinder schon vor der Pandemie persönlich gekannt haben, besteht bereits ein Vertrauensverhältnis. Moderne Technologien helfen jetzt dabei, dieses Vertrauen aufrecht zu halten. Die Mitarbeitenden kommunizieren virtuell mit den Kindern und Familien, über Apps wie WhatsApp. In vielen Regionen besitzt fast jeder ein Mobiltelefon. Das kann für Kinder, die unter Quarantäne stehen, eine Rettungsleine sein, wie sich in Indien gezeigt hat. Dort konnten nach Anrufen bei der Helpline neun Kinderheiraten verhindert werden. 

Eltern und Betreuer werden auch mit Geldtransfers für Lebensmittel und andere Notwendigkeiten unterstützt, so dass die finanzielle Notwendigkeit einer Kinderheirat weniger wahrscheinlich ist.

Und World Vision betont auf allen politischen Ebenen immer wieder, wie wichtig es ist, dass neben Ärzten, Krankenschwestern und Lebensmittelverkäufern auch die Mitarbeitenden von Kinderfürsorge und Kinderschutz als unverzichtbares Personal eingestuft werden müssen. 

Helfen Sie uns im Kampf gegen Mädchenheirat, Missbrauch und Gewalt an Kindern und sorgen Sie gemeinsam mit uns dafür, dass die Kinder auch im Lockdown auf dem Radar der Verantwortlichen bleiben.

* Name wurde zum Schutz des Mädchens verändert
 

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