Covid-19 hat dazu beigetragen, die Bemühungen um die Digitalisierung schneller voranzutreiben, was enorme Vorteile mit sich bringt, aber zu welchem Preis?


Mozambik: Ein Mitarbeiter von World Vision scannt mit seinem Mobiltelefon eine ID-Karte.

Auch in der Entwicklungszusammenarbeit (EZA) hat die Digitalisierung Einzug gehalten. Sie hat grosse Vorteile. Jedoch führt sie leider auch zu weniger Menschlichkeit, was gerade in der EZA ein wichtiger Wert ist.

Text: Colin Dyer, Senior Adviser for Quality & Innovation bei World Vision

Wenn ich an meinem Computer sitze, mein Handy auf dem Schreibtisch liegt und ein Streaming-Dienst meine Lieblingssongs abspielt, wird mir bewusst, welche mächtige Rolle die Technologie in meinem Leben spielt. Jeden Tag gibt es einen neuen Fortschritt in der Leistungsfähigkeit und Zugänglichkeit der Technologie, und ich gehöre zu den Glücklichen, die so viel davon profitieren. Es ist nicht mehr nötig, zu einer Bank zu gehen, um Geld abzuheben oder einen Kredit zu beantragen – das kann ich alles mit meinem Telefon oder Computer erledigen.  

Es scheint, als ob die Technologie die Antwort auf viele der Probleme sein könnte, mit denen Entwicklungshelfer in schwierigen Kontexten konfrontiert sind. Zum Beispiel können Daten über drahtlose Verbindungen in Echtzeit aus den unerreichbaren Winkeln eines Landes zur Verfügung gestellt werden. Entscheidungen können auf ausgeklügelten Dashboards basieren, die im Handumdrehen zu Diagrammen und Rastern zusammengefasst werden. Auswertungen können aus der Ferne und Umfragen auf mobilen Geräten von überall auf der Welt durchgeführt werden. Die Möglichkeiten und Anwendungen scheinen endlos.

Aber neben den Gewinnen müssen wir auch die potenziellen Verluste anerkennen. Wie hoch sind die Kosten, wenn wir die Digitalisierung ohne Zurückhaltung, Rücksicht und Zögern vorantreiben? Was sind die menschlichen, sozialen und interaktiven Kosten einer schnellen und ungebremsten Technologieeinführung wie der Digitalisierung?

In einem kürzlich erschienenen Artikel schlägt der Autor Neil Devons vor, dass die Digitalisierung einem höheren Zweck dienen muss. Er argumentiert, dass wir Fragen zu den menschlichen Auswirkungen der Einführung dieser Art von Technologie stellen müssen. Er fährt fort, dass die Digitalisierung in Unternehmen in erster Linie den Menschen in den Mittelpunkt stellen muss. Sie soll einem klaren Zweck dienen und die menschliche Arbeit verbessern, nicht ersetzen. Wie Devons bin auch ich der Meinung, dass es mehr zu beachten gibt als nur die Effizienzsteigerung.

So wie ich sind auch die lokalen Banken in vielen Entwicklungsländern weitgehend online gegangen, um ihre Reichweite zu erhöhen und die Betriebskosten zu minimieren. In vielen dieser Kontexte hat mobiles Geld die lokalen Geldverleiher ersetzt und die Dienstleistungen durch digitalisierte Mikrofinanzinstitutionen erweitert. Aber wo bleibt dabei die Menschlichkeit?

Menschlichkeit und menschliche Interaktion sind lebenswichtig. Nur Menschen verstehen, warum sich ausfallender Regen darauf auswirkt, ob ein Landwirt seine Kredite zurückzahlen kann. Auch warum Bargeld lebenswichtig ist, um einen lokalen Getreidelieferanten zu bezahlen, verstehen nur Menschen. Die Digitalisierung ist nicht die Antwort auf jedes Problem.

Wir müssen uns fragen, ob die Menschen durch die Digitalisierung widerstandsfähiger und mündiger werden, oder ob der Nutzen vor allem den Banken und profitorientierten Unternehmen zugute kommt. Was geschieht mit den traditionellen kontextuellen Werten, die eine menschenzentrierte Verbundenheit aufbauen und fördern können und die Gemeinschaft durch die Herausforderungen des Lebens tragen? Nur weil die Technologie und das Wissen verfügbar sind, heisst das nicht, dass sie automatisch angewendet werden sollten.

Ein weiteres Beispiel für den negativen Effekt einer übermässigen Digitalisierung sind wichtige menschliche Interaktionen von Spargruppen, die dann verloren gehen. Wenn die Gruppe über ihre Mobiltelefone in Verbindung bleibt, Einzahlungen tätigen und Kredite über mobiles Geld und eine App aufnehmen kann, warum sollte sie sich dann persönlich treffen? Wenn die unterstützende Organisation den Fortschritt der Gruppen über ein sicheres Dashboard verfolgen kann, das die Aktivitäten aufzeichnet, warum sollten die Mitarbeitenden dann das Büro verlassen müssen? Unsere Erfahrung ist, dass die menschliche Verbindung ein stärkerer Treiber für Veränderungen ist als die Mechanismen, die wir verwenden. Der Wert einer Spargruppe liegt gleichermassen in der Verbindung wie in den Transaktionen. Gruppen, die sich gemeinsam treffen, teilen Lebensgeschichten, Weisheiten und praktische Unterstützung füreinander. Sich nur auf die Digitalisierung zu verlassen, könnte dies zunichtemachen. Genauso,  wie der Entwicklungshelfer es verpassen könnte, wichtige Gruppendynamiken zu erfassen, Stärken, Herausforderungen, Chancen und Schwächen zu identifizieren, die ein Dashboard nur schwer erkennen kann.

Wir müssen die Technologie durch eine menschenzentrierte Linse betrachten, die die Kosten und den Nutzen anhand einer breiteren Palette von materiellen und immateriellen Kriterien bewertet. Die Akzeptanz und der Fortschritt der digitalen Technologie werden nicht aufzuhalten sein. Für diejenigen, die gefährdet und arm sind, könnte die Einführung geeigneter Digitalisierungsfortschritte lebensverändernd sein.

Wenn mich das letzte Jahr etwas gelehrt hat, dann, dass das digitale Zeitalter ein zweischneidiges Schwert sein kann. Eine gewisse Überlegung darüber, was verloren gehen könnte – und was wirklich wertvoll ist –, muss immer in das Gespräch eingebracht werden.