Bücher können die Welt verändern – und Kindern eine neue Zukunft schenken.
Text: World Vision Schweiz
Manche Wissenschaftler nennen es den «decline by nine», den «Niedergang ab neun»: Ab dem neunten Lebensjahr knickt die Begeisterung am Lesen bei vielen Kindern plötzlich ein. Auf deutsch ist dieser Wandel auch als Leseknick bekannt. Dabei ist das Lesen in diesem Alter enorm wichtig für das spätere Leben. Wer als Kind viel liest, den erwartet statistisch gesehen eine erfolgreichere berufliche Laufbahn und ein höheres Einkommen. Bücher fördern das tiefe, konzentrierte Lesen, das kritische Denken und die Entwicklung des Gehirns.
Es gibt verschiedene Erklärungen für den Leseknick bei Kindern. Ein möglicher Grund ist, dass Schulkinder anfangs noch sehr motiviert sind, das Lesen zu lernen, dann aber allmählich aus Frustration die Lust verlieren. Ohne zusätzliche Unterstützung der Eltern ist es für Kinder schwierig, letztendlich flüssig genug zu lesen, um längere Texte und Bücher geniessen zu können. Stattdessen holen sie sich ihre Informationen und Unterhaltung über soziale Medien und kurze Texte im Internet, die nur ein oberflächliches Engagement erfordern.
Gerade bei Jungen kann dieser Knick sehr ausgeprägt sein. Sie lesen mit zunehmendem Alter seltener in der Freizeit zum Spass, und verpassen damit eine wichtige Übungsmöglichkeit. Laut einer amerikanischen Studie berichteten 57 Prozent aller 8-jährigen, an fünf bis sieben Tagen pro Woche zu lesen. Bei den 9-jährigen waren es nur noch 35 Prozent. Während noch 40 Prozent der 8-jährigen sagten, dass sie das Lesen liebten, waren es bei den 9-jährigen nur noch 28 Prozent.
Ohne Lesefreude kann sich die Lesekompetenz oft nicht ausreichend entwickeln. Das ist selbst in Ländern mit soliden Bildungssystemen der Fall. Letztes Jahr zeigte der internationale PISA-Test zum Beispiel, dass fast ein Viertel der 15-jährigen Schweizerinnen und Schweizer nicht genug Lesekompetenz haben, um die Grundidee eines mittellangen Textes zu erfassen. Das Problem wurde zum Teil darauf zurückgeführt, dass die Hälfte der Jugendlichen in der Schweiz nicht zum Vergnügen lesen.
Was kann man gegen den Leseknick tun?
Die gute Nachricht: Es ist nie zu spät, eine echte Leseratte zu werden.
Selbst bei Erwachsenen verändert Lesenlernen das Gehirn und ermöglicht ihnen, Informationen besser zu erfassen.
World Vision setzt sich seit Jahrzehnten weltweit für die Alphabetisierung ein. Wir bringen Bücher und Lehrmaterialien an Orte, an denen kaum Menschen lesen können. Dabei haben wir gelernt, wie man Kinder für das Lesen begeistert. Denn auch in armen Ländern reicht es nicht aus, einfach nur ein Buch aufzuschlagen. Stattdessen motivieren wir die Kinder (und ihre Eltern!) mit kreativen Methoden zum Lesen.
Hier sind unsere erfolgreichsten Lese-Motivations-Strategien:
Auf dem Weg zum Leseclub: Schulkinder in Kambodscha
Ab in den Leseclub
Mit dem Leseförderungs-Projekt «Literacy Boost» erreichen World Vision und Save the Children Tausende von Kindern, die nicht oder kaum lesen können. Viele von ihnen gehen zwar zur Schule, fallen dort aber aus verschiedenen Gründen durch die Raster. Zum Teil fehlen Schulbücher, die Klassen sind überfüllt, die Lehrkräfte selber nicht genügend ausgebildet. Das Leseförderungs-Projekt hilft Kindern, durch sogenannte Leseclubs und Lesecamps am Nachmittag oder am Wochenende Versäumtes nachzuholen. Sie lesen und schreiben, singen und spielen, und auch ihre Eltern werden mit einbezogen. Das stärkt das Gemeinschaftsgefühl und motiviert die ganze Familie.
«Viele unserer Schüler wollen nach der dritten Klasse die Schule abbrechen. Sie finden es sehr schwierig, beim Lesen mitzuhalten», berichtet Uy Solicheat, eine Vize-Schuldirektorin in Kambodscha. Der Leseclub von World Vision gibt diesen Kindern halt: «Durch den Leseclub werden sie in die Schulgemeinde integriert und lernen Khmer [ihre Sprache] mit mehr Sicherheit und Selbstbewusstsein.»
Ähnliche Leseclubs gibt es übrigens überall auf der Welt – auch in der Schweiz, wo viele öffentliche Bibliotheken Leseprogramme für Kinder und Jugendliche anbieten.
Leseclub in Ruanda: Kellen und ihre Schwester lesen ein Buch.
1. Zusammen liests sichs besser
In den World Vision-Leseclubs lernen auch die Eltern, wie sie ihre Kinder beim Lesen unterstützen können. Das klappt sogar, wenn sie selbst Analphabeten sind. So können zum Beispiel die Kinder den Eltern vorlesen, oder die Eltern gemeinsam mit den Kindern das Lesen lernen.
Für die Kinder hat die Mitarbeit der Eltern eine doppelte Vorbildfunktion. Erstens zeigen die Eltern durch ihren Einsatz, dass ihnen das Lesen wichtig ist. Das motiviert wiederum die Kinder. Zweitens zeigen sie, dass es nicht peinlich ist, sich mühsam die Texte zu erschliessen, sondern dass das zum Lernen eben dazugehört. Ganz wichtige Vorbilder sind auch die älteren Geschwister. Wenn die Grossen gerne lesen, gelten Bücher auch bei den Jüngeren als cool.
«Ich bin so stolz, wenn ich sehe, wie meine Tochter liest und ihrer kleinen Schwester das Lesen beibringt», sagt Jackline, die Mutter der 8-jährigen Kellen, die ein Lesecamp in Ruanda besucht. «World Vision hat uns Eltern ebenfalls ausgebildet. Wir wissen jetzt, wie wir unseren Kindern helfen können, ihr Lesen zu verbessern.» Sie besucht ihre Tochter zum Beispiel in der Schule und bespricht ihre Leistung mit den Lehrern, um eventuelle Lücken zu schliessen.
2. Komm – ich lies dir vor
Ein Geheimtipp: Vorlesen macht nicht nur den Kleinsten Spass. Auch ältere Kinder und Jugendliche geniessen es oft, wenn man ihnen vorliest, ob im Rahmen einer Vorlesestunde im Klassenzimmer, oder ganz gemütlich zuhause mit den Eltern oder Grosseltern. Eine deutsche Studie befand, dass ein regelmässiges 15-minütiges Vorlesen durch die Lehrer im Klassenzimmer die Lesefertigkeit der Schülerinnen und Schüler verbesserte – vor allem, wenn danach über die Texte geredet wurde. «Alle Schüler, von den lesestärksten bis zu den leseschwächsten, profitierten vom Vorlesen», so die Studie.
Die Kinderpatenschaft gibt Jungen und Mädchen in armen Gegenden die Zeit und Mittel zum Lesen – wie hier in Ghana.
3. Lesend durchs Leben
Ganz wichtig für den Lesespass: das richtige Buch. Kinder und Jugendliche lieben Geschichten, die spannend sind und ihnen helfen, die Welt und sich selbst zu verstehen. Dabei ist es besser, ihnen Texte zu geben, die Begeisterung auslösen, als auf hohe Literatur oder dicke Bücher zu pochen. Zeitschriften, Comics und Kinderkrimis können die Lesemotivation steigern und dem Leseknick entgegenwirken. Nach und nach arbeiten sich Kinder damit ganz von alleine zu längeren und komplexeren Texten vor.
Wenn man die Kinder in den World Vision-Leseclubs nach ihren Lieblingsbüchern fragt, fällt übrigens auf, dass sie trotz unterschiedlicher Kulturen und Umstände oft sehr ähnliche Erzählmuster mögen. Lustige Geschichten, aufregende Abenteuer und Bücher über kleine oder schwache Wesen, die sich als wahre Helden entpuppen, sind bei vielen beliebt.
So empfiehlt die 8-jährige Meenu im Leseclub in Indien zum Beispiel das Buch «Das Festessen der kleinen Ameise»: «Ich mag dieses Buch, weil die kleine Ameise den grösseren Tieren hilft.»