Eine Woche in Nepal – vor Ort im Krisengebiet

4. Mai 2015

World Vision Schweiz-Mediensprecherin Manuela Eberhard

Unsere Mediensprecherin, Manuela Eberhard, berichtet in ihrem Blog aus dem Erdbebengebiet in Nepal.

Die Fahrt vom Flughafen Kathmandu nach Lalitpur, wo ich die ersten Nächte verbringen sollte, war wie eine Fahrt in einer Geisterbahn. Drei Tage vorher hatte hier die Erde gebebt. Der Strom funktionierte noch nicht, die Stadt war dunkel. Am Strassenrand konnte man schemenhaft tausende Zelte erkennen; Betroffene, deren Haus noch stand, trauten sich aufgrund der zahlreichen starken Nachbeben nicht zurück in ihre Häuser. Selbst die Tiere waren aufgeregt, die Hunde bellten und jaulten, die Hähne krähten, obwohl es längst noch nicht Morgen war.

Ich schlief kaum. Erst vor 1 Woche hatte ich das HEAT-Sicherheitstraining absolviert, das mich auf solche Situationen vorbereiten sollte. Doch in der Realität ist alles anders. In der Realität rast das Herz und der Verstand hinkt mit einiger Verzögerung hinterher. Ich hatte das Gefühl, die Decke fällt mir gleich auf den Kopf – im wahrsten Sinn des Wortes. In den kommenden Nächten gab es einige Nachbeben. Ich erwachte, schockiert darüber, dass das Bett hin und her rutschte.

Der Zustand vor Ort war sehr unterschiedlich. In einigen Bezirken hält sich der Schaden in Grenzen, andere Orte sind nahezu komplett zerstört. Zum Beispiel in Bhaktapur, ein Distrikt rund 15 Kilometer von Kathmandu entfernt. Als ich dort durch die Gassen ging, war ich den Tränen nahe: Die Stadt ist ein einziger grosser Trümmerhaufen. Noch immer suchten die Menschen unter den eingestürzten Häusern nach Vermissten. Viele Häuser stehen zwar noch – die Frage ist aber, für wie lange. Sie sind aus Ziegelsteinen gebaut und mit Lehm verputzt. Durch den Regen, der immer wieder einsetzt, beginnt dieser Lehm, sich zu bewegen. Viele Häuser werden daher einem weiteren Nachbeben kaum standhalten.

Immer wieder sieht man Rauchsäulen emporsteigen – stille Zeichen der Verbrennungen von Leichen. Die Menschen haben keine andere Wahl , als auf diese Weise von ihren Liebsten Abschied zu nehmen. Gleich neben dem Feld, welches nun quasi als Friedhof dient, wurde ein Camp eingerichtet: Unter rund hundert Blachen hausen 1 500 Menschen. Unter ihnen ist auch ein 13-jähriger Junge, mit dem ich kurz sprechen konnte. Er war gerade mit Freunden am Spielen, als ihn das Erdbeben überraschte. Zwei Stunden lang war er unter Trümmern begraben, bis ihn Rettungskräfte aus dem Schutt befreien konnten. Er hat einen gebrochenen Arm und zahlreiche Blessuren; die rechte Gesichtshälfte ist komplett zugeschwollen. Aber er lebt. Seine beiden Freunde überlebten die Katastrophe nicht.

Für solche Kinder ist es essentiell, dass sie einen Ort haben, an dem sie sich von den traumatischen Erlebnissen erholen können. World Vision errichtet darum spezielle Kinderschutzzonen, eine davon auch in dem Camp in Bhaktapur. Ich kann zwar bei der Errichtung nicht dabei sein, doch es beruhigte mich gewissermassen, als ich erfahren hatte, dass der Junge, den ich getroffen hatte, und die vielen anderen Kinder, die unter dieser Katastrophe leiden, bald einen Ort haben werden, an dem sie ein kleines Stück Hoffnung und Alltag zurückbekommen.

Am Freitag machten wir uns auf den Weg in die Bergregion Lamjung. Der Verkehr war dicht, alle wollen aus dem Kathmandu Valley flüchten. Auf der 6-stündigen Fahrt sah ich das Ausmass des überlasteten öffentlichen Verkehrs: Die Busse sind zum Bersten voll, doch es gibt nur eine einzige Strasse, die aus dem Kathmandu Valley führt und für schwere Fahrzeuge befahrbar ist. Also nehmen die Leute den ohnehin schon mühsamen Weg auf den Dächern der Busse auf sich oder stehen in den geöffneten Eingangstüren.

In Gauda und Kolki, zwei Dorfgemeinschaften in Lamjung, wollten wir Hilfsgüter verteilen, die wir auf dem lokalen Markt erworben hatten: 30kg Reis, 5kg Erbsen, 1kg Salz, 1l Öl und 1 Blache – je für 100 Familien. Die Strassen in dieser Höhe sehen nicht selten aus wie anspruchsvolle Mountainbike-Trails. Felsblöcke ragen aus dem Boden und ich dachte jeden Moment, dass nun wohl ein Reifen platzen würde. Bei wirklich guten Verhältnissen dauert es drei Stunden nach Gauda. Bei schlechten Verhältnissen oder in der Regenzeit fahren gar keine Fahrzeuge dort hin. Es ist schlicht zu gefährlich. Man kann sich nun vielleicht vorstellen, wie beschwerlich es ist, diesen Weg zu Fuss zurücklegen. Und das müssen die Menschen – denn für ein ausländisches Auto bezahlt man in Nepal wegen der Taxen nahezu 300 % des Kaufpreises. Ein Betrag, den kaum jemand aufbringen kann, geschweige denn die Menschen in den Bergregionen. Viele Dorfgemeinschaften konnte man noch nicht erreichen – wie es ihnen geht, ist ungewiss.

Eine Woche nach dem verheerenden Erdbeben ist die Zahl der Toten auf über 7 000 angestiegen. Und noch immer ist die Einfuhr von wichtigen Hilfsgütern eine grosse Herausforderung .

Doch trotz all der Umstände, des Leids, der zerstörten Häuser, der tausenden Toten – die Menschen hier geben sich optimistisch. Sie leben. Und mit einer unglaublichen Hoffnung und bewundernswerter Stärke versuchen sie, dieses Leben wieder aufzunehmen.

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